Lesen und Lernen

Bildung und Unterricht

Den Kanonissen wurde von der Institutio sanctimonialium eigene Lektüre und das Zuhören bei Lesungen während der Mahlzeiten vorgeschrieben. Im Unterricht sollten sie Psalmen auswendig lernen, das Lesen erlernen, die Heilige Schrift studieren und geistlich-sittliche Unterweisung erhalten.

In der Anfangszeit des Stifts Gernrode wurden die jungen Frauen von der Äbtissin Hathui unterrichtet und erzogen.Wer nach ihr diese Aufgabe erfüllte, wissen wir nicht. Erst 1325 wird wieder eine Schulmeisterin (scholastica) erwähnt.

Notiz einer Schülerin aus dem Frauenstift Essen. Düsseldorf, Universitäts-und Landesbibliothek, Ms. B 3, fol. 305 v (die Handschrift ist Leihgabe der Stadt Düsseldorf an die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf)

 

Ein einzigartiges Zeugnis für die Umsetzung der Institutio sanctimonialium in sächsischen Frauenstiften ist der Brief einer Schülerin aus Essen aus dem 10. Jahrhundert. Das Mädchen wurde von zwei Lehrerinnen im Deklinieren, Lesen und Singen unterwiesen. Diese junge Kanonisse konnte schreiben und beherrschte gut die lateinische Sprache.

 

 

Domina magistra felhin, date mihi licenciam / In hac nocte uigilare cum magistra / adalu & · ego uobis ambabus manibus confir / mo atque Iuro ut per totam noctem declinare / uolo aut legere · aut pro seniore nro cantare / Ualete & · ut peto facite

»Frau Lehrerin Felhin, gebt mir die Erlaubnis, in dieser Nacht zusammen mit der Lehrerin Adalu zu wachen, und ich bestätige und schwöre Euch mit beiden Händen, dass ich die ganze Nacht deklinieren oder lesen oder für unseren Herrn singen will. Lebt wohl und gestattet, worum ich bitte!«

Anhaltspunkte für den Unterricht liefern vor allem die aus Gernrode erhaltenen mittelalterlichen Texte. Das Lesen der lateinischen Schriften übten die Mädchen anhand des Psalters: Sie lernten Psalmen auswendig und dabei den lateinischen Wortschatz und die Grammatik. Geistlich-sittliche Unterweisung empfingen sie aus der Bibel (10. /11. Jahrhundert) und dem Leviticus-Kommentar des Hrabanus Maurus (10. Jahrhundert).

Altsächsischer Psalmenkommentar. Aus: Johan H. Gallée (Hrsg.), Altsächsische Sprachdenkmäler, Facsimilesammlung, Leiden 1894,Tafel IX b (Göttingen, Niedersächsische Staats- und -Universitätsbibliothek, HG-FB, GR 2 SVA I, 7069)

Der Psalmenkommentar greift die Anfangsworte der lateinischen Verse auf und erklärt sie in altsächsischer Sprache. Die im Gernröder Stiftsarchiv erhaltenen Fragmente deuten darauf hin, dass in Gernrode Psalmen unterrichtet wurden. Die Handschrift entstand in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts in Essen. Vermutlich gelangte sie durch die Äbtissin Hathui oder Adelheid aus Essen nach Gernrode.

 

 

 

Verba mea. T(hiu) (h)eli(ga) (samn)unga bid(id) (mid) (the)son vu(o)r(don). that the s(al)m(san)ga(s) (iro) (mu-thes) giho(ri)d(e) uuerth(en) fan god(e) e(ndi) (that) fan imo (f)ernoma(n) vu(erthe) (the) (v)uil(l)o (thes) (t)hurugthige(-)n(on) herto(n) (t)he alla t(hing) (ne) (fernimi)d mid then oron. neuan mid the(mo) (liahte) (sinaro) (godhedies.) Thu bist min go(d)

»Verba Mea. Deine heilige Gemeinde bittet mit diesen Worten, dass die Psalmgesänge ihrer Münder gehört würden von Gott und dass von ihm vernommen würde vollkommen das Wohlwollen des Herzens, (von ihm) der alle Dinge nicht vernimmt mit den Ohren, sondern mit dem Licht seiner Göttlichkeit. Du bist mein Gott ...«

Hrabanus Maurus, Expositiones in Leviticum Dessau, Anhaltische Landesbücherei, Wissenschaftliche Bibliothek und Sondersammlungen, Bruchstück 3 r

Das Fragment aus dem 10. Jahrhundert enthält Kommentare des Fuldaer Abtes Hrabanus Maurus zu Strafbestimmungen für Unzucht mit Tieren, Inzest und Geschlechtsverkehr während der Menstruation im alttestamentlichen Buch Leviticus 20, 15 – 19. Diese Bestimmungen zum Sexualverhalten wurden auch in den Bußbüchern der Zeit behandelt. Sie spiegeln aktuelle Probleme der Kanonissen wider: die Einhaltung der Keuschheit und inzestuöse Praktiken in den Adelsfamilien.

Die Verwendung der Pergamentseite als Aktenumschlag ist wie bei den meisten anderen Fragmenten aus Gernrode an den Knicken und der darauf geschriebenen Jahreszahl [hier A(nn)o (15)32] erkennbar.

Handschriftenfragmente, die als Aktenumschläge im Gernröder Stiftsarchiv erhalten blieben, und fünf vollständige Bände deuten darauf hin, dass das Stift Gernrode seit dem 10. Jahrhundert eine kleine Bibliothek besessen hat. Die mittelalterliche Stiftsbibliothek wurde jedoch um 1500 aufgelöst. Erhalten sind hauptsächlich liturgische Handschriften für die Messe und das Stundengebet. Nach 1530 wurde eine neue Büchersammlung angelegt, die heute größtenteils in der Anhaltischen Landesbücherei Dessau aufbewahrt wird.

Die Gernröder Kanonissen verfolgten vermutlich die gleichen Bildungsideale wie die Sanktimo-nialen in Gandersheim oder Quedlinburg, dürften diese aber kaum erreicht haben. Ein Skriptorium, das wie in Essen von Frauen geleitet wurde, lässt sich in Gernrode nicht nachweisen. Erst für das Spätmittelalter sind Kleriker als Stiftsschreiber belegt. Wer in früherer Zeit die zahlreichen Besitzurkunden des Stifts ausstellte, ist ungeklärt.

Hrabanus Maurus, Expositiones in Leviticum Dessau, Anhaltische Landesbücherei, Wissenschaftliche Bibliothek und Sondersammlungen, Bruchstück 3 r, Wiedergabe:

teras etiam concupiscentias aberrarent et propterea cum quadrupedibus uiri mulierisque commixtionis (!) mentionem faciens mortis esse huiusmodi poenam demonstrauit. Tu autem forsitan superfluam esse fidelibus hanc legem iudicabis. Neque enim inquis egent huiusmodi iure censeri. Non autem est superflua sed nimis eius nos iubere (!) spiritalis potest contemplatio, si quadrupedia uoluptates prauas et deorsum terram contuentes intellegamus ut pote omni humana carentes actione et propterea appellatas quadrupedia, quia quadrupediam (!) manus sicut homines non habent, atque ideo maxima nostra cognatione carent. Quicumque ergo uir aut mulier ad alienigenas uoluptates intantum incumbit ut ne quidem per desidiam ab eis capiatur, sed immo (!) valde eis chohaereat et cum eis coeat ut commixtionem (!) cum eis diuturnam et perseuerantem habeat, reus est his (!), qui talis est, morti (!). Hic est enim nefaria-rum libidinum finis, qui operantibus eas punitis recte ipse etiam mori dicuntur. Neque enim per se subsistentes quia nulla est peccati substantia in peccatoribus operantur (!), quibus tamen perditis et ipse simul pereunt. QUI ACCIPERIT SOROREM suam filiam patris sui uel filiam matris sue et uiderit turpitudinem eius illaque conspexerit fratris ignominiam nefariam rem operati sunt: occidentur in conspectu populi, eo quod turpitudinem suam mutuo reuelauerint, et portabunt iniquitatem suam. Tolerabile esse hoc a multis putabatur, sororibus filie þ patris uel filiae matris misceri, quia et Abraham de Sarra (!) dicebat soror mea est ex patre et non ex matre. Quod quidem non omnimodo sic est sicut habere putatur historia. Nam eos qui ex Thara (!) patre Habraham (!) geniti sunt Moses (!) narrans nusquam Sarre (!) mentionem fecit. Quod si et sorori suae Abraham nupsit ante tamen quam cognosceret Deum, malum est ergo sororibus coniugii societate misceri, unde illud lex prohibuit. Cum ergo haec sic se habeant nullatenus a praedicta contemplatione reccedamus. Turpitudinem autem sororis ex patre aut ex matre reuera illum intellege uidere et accipere qui turpem accionem a patre aut matre id est in qua pater aut mater deliquid (!), non solum uidet sed et accipit per similem et parem actionem, et nefarius est, hic non solum perscrutans quae non oportuit, sed et superedificans et coniungens se perpetrate a parentibus prauitati, queþ soror eius, quasi praui prauitas, appellatur. Sed et ut (!) quid diffamauit eam et disseminauit? Latentia enim plurimos parentum peccata diffamant filii quando agunt similia

[recto a]< Eine sehr große Strenge wandte der Gesetzgeber gegen das Volk der Juden an, weil sie in so großem Maße ungerecht und der Begierde verfallen waren, dass sie zu perversen> Begierden abschweiften, und er deswegen, indem er den Verkehr von Mann und Frau mit Vierfüßern erwähnte, klar machte, dass die Strafe dieser Tat der Tod sei. Du wirst sicher meinen, dass dieses Gesetz für die Gläubigen überflüssig sei. Nicht nämlich, sagst du, entbehren sie des Rechts, für derartige gehalten zu werden. Es ist jedoch nicht überflüssig, sondern eine geistliche Betrachtung dessen kann uns sehr helfen, wenn wir die Vierfüßer verstehen als die bösen und auf die Erde hinab tendierenden Begierden, die nämlich jeder menschlichen Handlungsweise entbehren und deswegen Vierfüßer genannt worden sind, weil Vierfüßer nicht Hände so wie Menschen haben und sie deswegen unserer nächsten Verwandtschaft entbehren. Welcher Mann also auch immer oder welche Frau in dem großen Maße solchen perversen Gelüsten verfällt, dass er nicht einmal aus Müßigkeit von diesen erfasst wird, sondern sich vielmehr aktiv mit diesen verbindet und mit diesen vereinigt, um mit ihnen langandauernden und heftigen Verkehr zu haben, ein solcher Sünder hat den Tod verdient. Das ist nämlich das Ende der gottlosen Begierden, von denen man sagt, dass sie, nachdem die, die sie ausüben, mit Recht bestraft worden sind, auch von selbst verschwinden. Denn sie wirken, da sie nicht selber existieren – die Sünde hat ja keine Substanz – nicht selbstständig in den Sündern; wenn diese jedoch vernichtet sind, gehen sie zugleich mit ihnen zugrunde. Wenn einer seine Schwester als Frau empfängt, die Tochter seines Vaters oder die Tochter seiner Mutter, und ihre Scham sieht, [recto b] und jene die Scham des Bruders erblickt, dann begehen sie Unzucht: Sie werden im Anblick des Volkes sterben, dafür, dass sie gegenseitig ihre Scham entblößen, und werden ihre Sünde tragen. Von vielen wurde geglaubt, dass es erträglich sei, sich mit Schwestern, der Tochter des Vaters oder der Tochter der Mutter, zu vereinigen, weil auch Abraham über Sarah sagte: Sie ist meine Schwester vom Vater und nicht von der Mutter, was freilich nicht in jedem Fall so ist, wie der Wortlaut verstanden wird, es zu beinhalten. Denn Moses, der die aufzählt, die von Terach, dem Vater Abrahams, gezeugt worden sind, macht nirgends eine Erwähnung über Sarah. Wenn also aber Abraham seine Schwester vorher geheiratet hat, bevor er schließlich Gott kennen lernte, ist es demnach ein Übel, sich in der Gemeinschaft der Ehe mit Schwestern zu vereinigen, weshalb das Gesetz es verboten hat. Wenn sich dieses also so verhält, lasst uns nicht im Geringsten von der bereits erwähnten religiösen Betrachtungsweise abweichen. Erkenne jedoch, dass derjenige die Scham der Schwester vom Vater oder von der Mutter in der Tat sieht und empfängt, der eine schändliche Handlung vom Vater oder der Mutter, das heißt, in der der Vater oder die Mutter gesündigt hat, nicht nur sieht, sondern auch durch eine ähnliche und gleiche Handlung übernimmt und gottlos ist, weil dieser nicht nur erforscht, was sich nicht gehört, sondern noch verschlimmert und sich der von den Eltern vollzogenen Verkehrtheit verbindet, welche Verkehrtheit „ihre Schwester“, gleichsam die Verkehrtheit des Verkehrten, genannt wird. Aber wozu hat er diese auch unter die Leute gebracht und sie verbreitet? Denn die vor den meisten verborgenen Sünden der Eltern

 

Home Weiter