Restaurieren und Rekonstruieren

Die Stiftskirche im 19. Jahrhundert

»Dennoch aber macht ihr unverkennbar hohes Alter, die schlichte Einfachheit ihrer Formen, die Gediegenheit und Festigkeit, welche man noch immer an dem ganzen Baue wahrnimmt, denselben Eindruck, welchen ein ehrwürdiger Greis hervorbringt, dessen furchenreiches Gesicht ... verbunden mit einem derben Gliederbau, noch immer die Spuren männlicher Kraft ..., Einfachheit und Würde zeigen.«

Ludwig Puttrich, Denkmale der Baukunst in den herzoglich anhalt‘schen Landen, Leipzig 1841

Gernrode, Kirche und Stiftshof. Wilhelm Steuerwaldt 1854, Gouache und Aquarell. Dessau, Anhaltische Gemäldegalerie, Graphische Sammlung

 

Die Darstellung der Kirche und des Innenhofes dokumentiert den verfallenen Zustand der Stiftsgebäude vor der Restaurierung. Der Steinbogen im Vordergrund und die Ranken entsprechen ganz der romantischen Wahrnehmung von mittelalterlichen Bauten und Ruinen aus Sicht des 19. Jahrhunderts. Die Wirtschaftsgebäude an den Seiten wurden bei der Restaurierung entfernt.

 

1616 wurde das Stift Gernrode zur fürstlichen Domäne erklärt. Die Stiftsgebäude verfielen, die Kirche selbst musste als landwirtschaftliches Nutzgebäude herhalten. In den Räumen des Kreuzganges logierten während des 18. Jahrhunderts die Fürsten von Anhalt-Bernburg. Die große Zeit des Damenstifts geriet in Vergessenheit.

Die beiden Apsiden im Westen und Osten waren zugemauert und von außen mit Zugängen versehen worden. Auch die Arkaden der Langhausemporen waren verschlossen, so dass nur wenig Licht in das Innere drang.

Kirche von Südosten 1841. Stich von Ludwig Puttrich. Halle, Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt

 

Daher war bereits 1754 der gesamte Raum einschließlich der alten Wandbemalung weiß übertüncht und die Decke mit einem gemalten Himmel versehen worden. Zur Erneuerung der Chortreppen hatte man die Grabsteine der Äbtissinnen zersägt und eingebaut.

Im April 1834 wurde die Kirche von dem Kunsthistoriker Franz Kugler bei einem Spaziergang "entdeckt". Er besichtigte die Kirche und widmete ihr anschließend einen ausführlichen Bericht, in dem sowohl das »widrige und wüste Ansehen« (Kugler 1838) als auch die Bedeutung des mittelalterlichen Bauwerkes klar erfasst wird. Im Zeitalter des Historismus und aufstrebender Kunstwissenschaft konnte die Stiftskirche aus dem 10. Jahrhundert nicht unbeachtet bleiben. Auf Anregung Ludwig Puttrichs bemühte sich die Regierung des Anhalt-Bernburgischen Staates daher seit 1838 um die Restaurierung.

 

Innenansicht der Kirche nach Osten 1841. Stich von Ludwig Puttrich. Halle, Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt

 

1858 konnten die Bauarbeiten beginnen. Für die Instandsetzung (bis 1872) konnte eine Autorität auf dem noch jungen Gebiet der Denkmalpflege gewonnen werden: Ferdinand von Quast (1807 bis 1877) war in Preußen zum ersten staatlichen Konservator ernannt worden und galt als besonderer Kenner der spätantiken und byzantinischen Kunst. Er restaurierte die Gernröder Stiftskirche in so mustergültiger Weise, dass diese Restaurierung gleichfalls unter Denkmalschutz steht.

Quast untersuchte zuerst die einzelnen Phasen, in denen an der Kirche gebaut worden war. Ungewöhnlich für seine Zeit war die Umsicht und Zurückhaltung, die er bei der Instandsetzung der verschiedenen Teile der Kirche walten ließ. Ausgebessert wurden die schadhaften Teile der Außenmauern und des Daches. Die beiden Hauptapsiden und die Bogenöffnungen der Langhausemporen wurden wieder geöffnet, die angebauten Wirtschaftsgebäude abgerissen. Umbauten, die etwa das Westwerk des 10. Jahrhunderts wieder hergestellt hätten, kamen für Quast nicht in Frage. Auch im Innern ließ er das Heilige Grab, dessen Funktion damals noch nicht bekannt war, vollkommen unberührt.

Weniger Zurückhaltung zeigte Quast bei der Innenausstattung der Kirche. Die Bemalung der Decke und der Fensterbögen, die Wandbilder in den Chören sowie Deckenbalken und Orgel wurden von ihm gestaltet. Dabei sollten »altchristliche Formentraditionen« als Vorbild dienen. Dieser Teil der Restaurierungsarbeiten gilt bis heute als umstritten.

 

Home Weiter